Marie leidet unter chronischen Muskelkrämpfen. Wie auch in ihrem Fall gibt es Beschwerden und Krankheiten, bei denen herkömmliche Therapien keine Wirkung zeigen. Cannabis kann diesbezüglich jedoch Wunder wirken. Soll es also bereits früher in der Therapie eingesetzt werden?
Als Marie am Mittag in der Küche stand und das Essen für ihren Mann und ihre Kinder zubereitete, spürte sie plötzlich ein kräftiges, sehr schmerzhaftes Ziehen in ihrer Wade, ein wenig oberhalb des Knöchels. Der Muskel wurde hart. Eine falsche Bewegung und die nächste Schmerzwelle war da. So hatte alles angefangen. Mit der Zeit waren solche mühsamen Muskelkrämpfe Teil ihres Alltags geworden. Sie traten in verschiedenen Körperbereichen auf und waren manchmal so stark, dass sie nicht mehr stehen konnte und sich gleich hinlegen musste. Bei Beginn ihrer Beschwerden war Maries Körpertemperatur stark angestiegen und pendelte sich schliesslich bei einer Temperatur im Fieberbereich ein. «Ich hatte das Gefühl, immer eine Grippe zu haben», erzählt sie.
Anwendungsgebiet von Cannabis
Cannabis kann bei vielen verschiedenen Beschwerden und Krankheiten eingesetzt werden. Die beiden besterforschten Inhaltsstoffe der Pflanze sind Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD).
THC besitzt eine schmerzlindernde, krampflösende und appetitstimulierende Wirkung. Es wird v.a. bei chronischen Nervenschmerzen, Übelkeit und Appetitlosigkeit bei einer Krebstherapie oder spastischen Muskelverkrampfungen bei z.B. Multipler Sklerose oder Cerebralparese eingesetzt.
CBD wirkt vor allen Dingen beruhigend und antientzündlich. Es wird bei Epilepsie, Übelkeit und Erbrechen, Stress, Schlafstörungen, sowie Psychosen eingesetzt und kann sogar die psychoaktive Wirkung anderer Stoffe wie z.B. THC lindern. Deshalb werden auch oft Gemische der beiden Wirkstoffe eingesetzt.
«Es war nichts mehr möglich!» - Marie, Patientin mit chronischen Muskelkrämpfen
Bevor Maries Beschwerden auftraten, pflegte sie viele Hobbies. «Ich habe Gesangs- und Klavierstunden genommen und habe auch Geige gespielt. Mit Klavierbegleitung bin ich aufgetreten.», erzählt sie. Reisen, Ausflüge, das alles war längst Vergangenheit für Marie. «Es war nichts mehr möglich!». Zahlreiche Untersuchungen und Arztbesuche halfen nicht die Ursache der Beschwerden aufzuklären. «Sämtliche Medikamente und Therapien hatten bei mir keine Wirkung gezeigt» schildert sie. Marie war kurz davor, die Hoffnung zu verlieren. Doch als sie an ihrem Esstisch sass und durch eine Zeitung blätterte, weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Das würde ihr Leben verändern! Auf der letzten Seite befand sich Werbung für Cannabis-Öl, das bei chronischen Schmerzen, wie Marie sie hatte, Wunder wirken soll.
Wie es zu einer Therapie mit Cannabis kommt
Der behandelnde Arzt stellt die Indikation für eine Behandlung mit einem Cannabis Medikament gemäss den oben erwähnten Einsatzgebieten. «Kommt eine Behandlung mit Cannabis in Frage, werden zuerst die medizinische Vorgeschichte, evtl. vorliegende Untersuchungsergebnisse und alle bereits erfolgten Therapieformen und deren Wirkung besprochen.», klärt uns Dr. med. Pamela Voggel, Hausärztin und Phytotherapeutin in Bern, die bereits seit vielen Jahren vereinzelt Cannabis-Therapien mit Patienten durchführt, auf.
Durch Rücksprache mit einer spezialisierten Apotheke, wie der Bahnhofapotheke Langnau, wo auch Marie ihr Cannabis-Öl besorgt, werden mögliche Interaktionen mit bestehenden anderen Medikamenten ausgeschlossen und das zum Einsatz kommende Präparat und die Startdosis wird definiert. «[…] seit dem 1. August 2022 kann jeder Arzt, jede Ärztin, die befugt ist, Betäubungsmittel zu verschreiben, Cannabishaltige Produkte verschreiben und diese können dann wie jedes andere Medikament in der Apotheke abgeholt werden.», informiert uns Andrea Robbi, Apotheker in der Bahnhofapotheke Langnau bei einem Interview. Auch die Kostenfrage muss geklärt werden, denn Medizinal-Cannabis-Präparate sind sehr teuer. «Damit die Krankenkasse die Kosten übernimmt, muss ein Kostengutsprachegesuch gestellt werden. In der Regel übernehmen die Krankenkassen die Therapiekosten nur dann, wenn aus Sicht des Vertrauensarztes bereits sämtliche schulmedizinischen Massnahmen ausgeschöpft wurden und erfolglos oder zu wenig erfolgreich waren.», erklärt uns Frau Dr. Voggel.
Der Wirkmechanismus von Cannabis
Cannabis hat eine komplexe Wirkung auf den Körper, die von Person zu Person variieren kann. Das Wort «Cannabinoid» kennen die meisten Menschen nur im Kontext mit Cannabis, doch auch der Körper produziert eine Reihe von Cannabinoiden sogenannten Endocannabinoiden. Dies sind körpereigene Moleküle, die nicht aus der Umwelt aufgenommen werden. «Endo» ist aus dem griechischen abgeleitet und bedeutet so viel wie «innen» und in diesem Kontext «körpereigen». THC und CBD wirken auf die gleichen Rezeptoren in unserem Körper wie die Endocannabinoide. Wenn also THC und CBD solchen Rezeptoren andocken, werden die gleichen Effekte ausgelöst, die eigentlich unsere Endocannabinoide auslösen. Dazu gehören z.B. Schmerzlinderung, Appetitstimulierung, Erholung von Stress, Reduktion von Entzündungen und Überreaktion von Nervenzellen. Im Hirnstamm, der für die Kontrolle elementarer Lebensfunktionen wie Atmung und Herzaktivität verantwortlich ist, ist die Konzentration der Rezeptoren sehr niedrig. Deshalb können Cannabinoide die Hirnstammfunktionen auch nicht schädigen und es gibt keine letale (=tödliche) Dosis. Obwohl THC und CBD sehr ähnlich aufgebaut sind, kann CBD die Rezeptoren nicht auf die gleiche Weise aktivieren wie THC. Die Wirkweise von CBD ist nur unzureichend erforscht und es ist noch nicht sicher, wie genau der Wirkstoff CBD seine Wirkung entfaltet.
«Dadurch wurde auch mein Lebensmut wieder geweckt» - Marie, Patientin mit chronischen Muskelkrämpfen
Als Marie schliesslich mit der Therapie begonnen hatte und jeweils auch beim Erhöhen der Dosis, fühlte sie leichte Taubheit in ihren Gliedmassen, an die sich ihr Körper gewöhnen musste. Doch das Medikament zeigte schnell Wirkung. Maries Körpertemperatur sank sehr schnell und normalisierte sich schliesslich innert Tagen. Ihre chronischen Muskelkrämpfe wurden schwächer und auch der Zeitabstand, in dem sie auftraten, wurde viel grösser. «Dadurch wurde auch mein Lebensmut wieder geweckt». Nach dem Einnehmen des Cannabis-Öls ist ihr auch heute manchmal noch etwas schwindelig, aber dieser Schwindel vergeht schnell.
Nicht jeder Patient / jede Patientin ist gleich und reagiert auch gleich auf eine Behandlung mit Medizinal-Cannabis. «Jeder Patient spricht anders auf die Therapie an. In manchen Fällen hatte ich damit sehr gute, eindrückliche Erfolge, andere Patienten haben die Therapie nach kurzer Zeit wieder abgebrochen, wegen mangelhafter oder fehlender Wirksamkeit oder Unverträglichkeit.» erzählt Frau Voggel.
Nutzen und Risiken
Nebst der grossen Bandbreite an Beschwerden, die mit Cannabis behandelt werden können, ist es oft die letzte Hoffnung vieler Patienten, da meist alle anderen Therapieversuche gescheitert waren und die Beschwerden nicht ausreichend behandelt werden konnten.
Viele Menschen sehen das Suchtpotential oder die berauschende Wirkung von Cannabis als problematisch, doch Apotheker Andrea Robbi erzählt uns: «Bei den medizinischen Dosen, so wie wir das Empfehlen, also maximal 10mg THC pro Einzeldosis und maximal 30mg THC pro Tag ist das Suchtpotential wirklich zu vernachlässigen.» Cannabisblüten, die zum «Kiffen» verwendet werden weisen einen THC-Gehalt von 10-20< % auf im Gegensatz zu der Cannabistinktur der Bahnhofapotheke Langnau, die nur 1% THC enthält. Auch die Pharmakokinetik spielt bei Sucht als Risiko eine Rolle. Die Pharmakokinetik beschreibt die Gesamtheit aller Prozesse, denen ein Arzneistoff im Körper unterliegt. Dazu gehört die Aufnahme des Arzneistoffes, die Verteilung im Körper, der biochemische Um- und Abbau sowie die Ausscheidung. Die Cannabistinkturen und Öle werden über den Dünndarm aufgenommen und gelangen durch die Pfortader in die Leber. «Dort gibt es den «First-Pass-Effekt», das heisst ein grosser Teil des THCs wird bereits abgebaut und schliesslich entfalten nur etwa 15% des Präparats eine Wirkung. Beim Kiffen kommen 60% des Wirkstoffs unabgebaut im Körper an, da das THC dabei durch die Lunge direkt ins Blut aufgenommen wird.», klärt uns Andrea Robbi auf. Wenn man also eine Cannabis Tinktur oral einnimmt, tritt nach etwa einer Stunde die erwünschte Wirkung ein. Beim Kiffen wird viel mehr THC aufgenommen und nur dabei gibt es eine suchterregende Wirkung.
Cannabis ist wie auch jedes andere Medikament mit Nebenwirkungen verbunden. Einige Nebenwirkungen, die bei einer Behandlung mit Medizinischem Cannabis auftreten können, sind Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und wenige einzelne Patienten berichten über Kopfschmerzen, Herzrasen, Übelkeit oder Hautausschlag. Im Gegensatz zu Opioiden oder anderen Medikamenten gibt es jedoch keine bekannten Fälle, bei denen eine Überdosis von Cannabis zu einem tödlichen Ausgang führte.
Ausblick
Die Cannabistherapie kann eine wirksame Alternative für schulmedizinische Medikamente bei der Behandlung von bestimmten Krankheiten und Beschwerden sein. Allerdings sollten sich Patienten und Patientinnen bewusst sein, dass es sehr wichtig ist, dass eine Cannabistherapie nur unter Aufsicht einer erfahrenen Fachperson durchgeführt wird, die die Notwendigkeit der Behandlung abwägt und sie sorgfältig überwacht.
Darüber hinaus ist eine Therapie mit Cannabis mit wenigen Risiken und Nebenwirkungen verbunden. In der Hanfpflanze sind über 100 verschiedene Cannabinoide enthalten, die jedoch noch kaum erforscht sind. Das Gebiet Cannabis in der Medizin ist noch ein junges Forschungsgebiet und weitere Forschung ist sicherlich notwendig, um den grössten Nutzen aus der Pflanze zu ziehen und ihr Potential vollständig auszuschöpfen. Unserer Meinung nach sollte Cannabis schon früher als Therapieoption für Patienten wie Marie in Betracht gezogen werden, um das Leiden so klein wie möglich zu halten. Der Stellenwert von Cannabis ist klein, aber er wächst und auch die Akzeptanz wächst. Aber es steht fest, dass die Behandlung mit Cannabis in Zukunft trotzdem weiter etwa den gleichen Stellenwert haben und ein Nischenprodukt bleiben wird, solange Cannabis für die Allgemeinheit illegal bleibt.
*Der Name der Patientin ist aus Datenschutzgründen geändert